Tief durchatmen. Augen nach vorne und los geht’s. Der Anlauf, immer schneller werdend. Die Elemente drehend, überschlagend und am Ende die Landung, stabil fest stehend. Noch ein, zwei tänzerische Elemente und dann ist es geschafft. Die letzte Bodenübung von Kim Bui in ihrer Karriere im Teamfinale am Samstag ließ nicht nur die Dämme bei den Zuschauerinnen und Zuschauern in der Münchner Olympiahalle und am Livestream brechen, auch Kim und ihre Mannschaftskolleginnen lagen sich sichtbar mit Tränen in den Augen in den Armen. Während das Publikum in der Wettkampfstätte von 1972 für die scheidende Turnerin stehend applaudierte, wurde den Sportlerinnen auf der Wettkampffläche vor der letzten Rotation klar: Die Bronzemedaille ist zum Greifen nah.
Es war einer der emotionalen Höhepunkte der Karriere einer Sportlerin, die alles Erdenkliche in ihrer Laufbahn erlebt hat. 2005, vor 17 Jahren, startete Kim Bui als Nachwuchshoffnung erstmals bei einer Weltmeisterschaft der Frauen in Melbourne. Was folgte, war eine unvergessliche Karriere. Acht WM-Teilnahmen, 15 EM-Teilnahmen, dabei Bronze am Stufenbarren 2011 in Berlin und 37 Medaillen bei Deutschen Meisterschaften, davon 13 Goldmedaillen, sind die nackten Zahlen der Laufbahn von Kim Bui. Dazu kommen die emotionalen Höhepunkte im Sportlerleben der Stuttgarterin. 2013 trat sie erstmals bei der Universiade in Kazan an und kam mit zwei Bronzemedaillen im Mehrkampf und im Team zurück an ihre Uni Stuttgart. 2017 in Taipeh war es die Universiade-Silbermedaille am Stufenbarren, welche die Studentin der technischen Biologie gewann. Folgerichtig wurde Kim 2013 vom adh zur Hochschulsportlerin des Jahres gekürt.
Bei den Olympischen Spielen 2008 kam es zur ersten Enttäuschung im Sportlerleben der Kim Bui. Als Ersatz durfte sie zwar mit zu den Spielen nach Beijing. Doch der Auftritt an den Geräten blieb ihr verwehrt. In der Folge zeigte sich der Kampfgeist der Bodenspezialistin. Immer wieder kämpfte sie sich zurück. Teilweise vor - von außen gesehen - aussichtloser Situation. Dabei ist sie gewachsen. Jeder Schritt nach vorne brachte die Sportlerin Kim Bui auch persönlich weiter. So qualifizierte sich die Studentin souverän für die Olympischen Spiele 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro. Dort erreichte sie mit der Mannschaft das Finale und landete zusammen mit ihren Turnkolleginnen auf dem sechsten Platz.
Im Laufe ihrer Karriere setzte sich Kim Bui gezielt für die Rechte der Athletinnen in ihrer Sportart ein. Mit ihrer Erfahrung positionierte sie, zusammen mit ihren Teamkolleginnen, wichtige Themen in der Turnwelt. So tritt das deutsche Team bei internationalen Wettkämpfen mit langen Turnanzügen an. Ein Statement gegen Sexualisierung der Athletinnen und sexualisierte Gewalt, welches durch Missbrauchsfälle vor allem in den USA große Relevanz erhielt. „Sei wie du bist“, ist somit ein Leitgedanke für die inzwischen 33-Jährige. Dies zeigt auch ihr akademischer Weg. In einer Sportart, die vor allem durch Wiederholungen, ständiges Training und körperliche Anstrengungen gekennzeichnet ist, legte Kim ihren Bachelor und ihren Master neben dem Leistungssport ab. In Gesprächen und Interviews wurde sie so zur Botschafterin der Dualen Karriere. Kim hat gezeigt, dass es selbst in einer Sportart wie Gerätturnen möglich ist, Studium und Spitzensport erfolgreich zu kombinieren.
Den letzten großen Kampf bewältigte sie in den vergangenen Jahren. Mit Anfang 30 in der Nationalmannschaft der Turnerinnen vertreten zu sein, ist nicht selbstverständlich. Dieser herausfordernde Sport macht vor dem Körper nicht halt, doch Kim Bui schien dies nichts anzuhaben. Sie wurde in einigen Elementen sauberer und wurde trotz, oder vielleicht wegen, des Alters immer besser. Dennoch war ihre Qualifikation zu den Olympischen Spielen 2020 eine Zitterpartie. Über die Weltmeisterschaften vor der Haustür 2019 in Stuttgart sollte es direkt Richtung Tokyo gehen. Dann kam die Pandemie, die Verunsicherungen, die Verlegung. Für eine Sportlerin, die mehr als eineinhalb Jahrzehnte im Leistungssport war, eine Katastrophe. Noch einmal musste Kim durch die Qualifikation. Noch einmal kämpfte sie sich ins Team. Denn eins war klar, sie wollte die Ersatzposition nicht noch einmal einnehmen. Am Ende hat es gereicht. Ihr Kampfgeist hat sie zu den Spielen gebracht, wo sie einen sauberen und beeindruckenden Wettkampf zeigte. Ein 17. Platz in der Endabrechnung des Mehrkampfs war ihr Abschied von den Olympischen Spielen.
Doch bis zum endgültigen Finale, sollte es noch ein Jahr dauern. Bei den Europameisterschaften 2022 sollte die Olympiahalle in München die Kulisse darstellen für das Ende dieser beeindruckenden Reise der Kim Bui. Der Sprung, als letztes Element, gilt als Punktegarant im Teamwettkampf. Auf Platz drei liegend, waren die Trümpfe somit in der Hand der deutschen Turnerinnen. Kim zeigte als erste Sportlerin des deutschen Teams einen guten Sprung und machte mit ihrer Wertung den ersten der letzten drei Schritte Richtung Bronze. Am Ende standen Elisabeth Seitz, Pauline Schäfer-Betz, Sarah Voss, Emma Leonie Malewski und eben Kim Bui auf dem Siegerpodest. Bejubelt von den Tausenden in der Olympiahalle von München. Am gestrigen Sonntag zeigte Kim Bui als Turnerin beim Gerätefinale am Stufenbarren ihren letzten Auftritt. Mit dem fünften Platz verabschiedete sich eine ganz große Hochschulsportlerin und Botschafterin der Werte des Sports von der internationalen Bühne.
Text: Moritz Belmann, Mitglied des adh-Sportbeitrats und der adh-Wettkampfkommission